Der Tagesspiegel, 8.2.2016
„Besorgte Eltern“ machen gegen den Sexualkunde-Unterricht mobil. Die lose Querfront aus konservativer Elternschaft, rechten Verschwörungstheoretikern und homophoben Eiferern inszeniert sich als Gralshüter einer vom Staat bedrohten kindlichen Unschuld. Der Tenor des Wutbürgertums: Das eigentlich asexuelle Kind werde durch den Aufklärungsunterricht zwangssexualisiert, schlimmer noch, durch die alle natürlichen Unterschiede einebnende Gender-Theorie zu homosexuellem Verhalten erzogen. Mit vermeintlich harmlosen Parolen wie „Lasst die Kinder Kinder sein“ und „Kinder brauchen Liebe, keinen Sex“ demonstrierte man für das Konstrukt einer unbefleckt-unschuldigen Kindheit und gegen sexuelle Vielfalt im Allgemeinen.
Dabei hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) „sexuelle Rechte“, und damit auch das Recht auf die sexuelle Aufklärung von Kindern, 2002 zu einem Bestandteil der allgemeinen Menschenrechte erklärt.
Wie aber ist es um die Sexualität des Kindes in Wahrheit bestellt? Unterliegt ihre An- oder Abwesenheit nicht immer dem Zeitgeist? Ist es nicht eine erwachsene Zuschreibung, kindliche Handlungen als sexuell oder asexuell zu beschreiben? Kinder haben schließlich ihren eigenen Zungenschlag und verhandeln ihr Tun und Lassen nicht in „erwachsenen“ Begriffen.
Die Soziologin Christin Sager hat unlängst eine erhellende Studie publiziert, in der sie anhand der bundesrepublikanischen Sexualaufklärung von 1950 bis 2010 die Wandelbarkeit der Konzepte „Sexualität“, „Kindheit“ und „Familie“ beschreibt. Mit Foucaults Diskursanalyse als theoretischer Basis zeigt Sager, dass das Bild vom Kind keine übergeschichtliche Wahrheit besitzt. Auf welche Weise eine Gesellschaft von „Kindheit“ und „Sexualität“ handelt, ist eingebunden in die Wissensstruktur der Zeit, die ihrerseits durch die herrschenden Machtverhältnisse geprägt ist…