Der Tagesspiegel, 25.11.2019
Als der Eiserne Vorhang vor 30 Jahren fiel und der Realsozialismus die große Weltbühne räumte, war die Stimmung im Westen euphorisch. Die Geschichte habe sich vollendet, die globalpolitischen Widersprüche seien endlich überwunden, jubilierte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama einmütig mit vielen Vertretern seiner Zunft. In Medien, Wirtschaft und Politik dominierte die Erzählung vom gesellschaftlichen Fortschritt.
Marktwirtschaft und Demokratie, so weissagte man, sollten sich nun erdenweit verbreiten. Und tatsächlich schien es, als befände sich der Liberalismus auf der Siegerstraße. Viele Länder in Osteuropa, Südamerika und Afrika begannen sich zu demokratisieren, Minderheitenrechte weiteten sich aus und die transnationale Zusammenarbeit wuchs.
Das aber war nur die halbe Geschichte: Durch Terroranschläge und Großbanken-Crashs, sozialen Kahlschlag und Nationalismus, Massenflucht und Klimakatastrophe ist der Fortschrittsoptimismus der Nachwendezeit einer allgemeinen Ernüchterung gewichen. Inzwischen scheint der westliche Liberalismus in einer umfassenden Krise zu stecken.
Was die Probleme unserer Gegenwart mit dem Strukturwandel der letzten 30 Jahre zu tun haben und wodurch sich unsere „Spätmoderne“ von früheren Epochen unterscheidet, beschreibt der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem neuen Essayband „Das Ende der Illusionen“. Mit seiner aktuellen Gesellschaftsanalyse schließt der an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) lehrende Forscher an sein viel diskutiertes Werk von 2017, „Die Gesellschaft der Singularitäten“, an...