Der Tagesspiegel, 10.2.2020
Bis vor wenigen Jahren noch wurde der digitale Wandel überwiegend euphorisch begrüßt. Man hoffte auf die Egalisierung des Wissens, den großen Demokratisierungsschub. In jüngster Zeit hat sich die Gemütslage gewandelt, die skeptischen Stimmen sind lauter geworden. Vom russischen Publizisten Evgeny Morozov bis zum US-amerikanischen Informatiker Jaron Lanier sind früher überzeugte Web-Enthusiasten zu öffentlich warnenden Kritikern mutiert.
Der Traum von einer herrschaftsfreien Kommunikationsarena, in der mündige Bürger Argumente austauschen, zerplatzte an der Wirklichkeit der asozialen Hetzwerke. Die gängige Diagnose: Filterblasen statt Deliberation, sich wechselseitig verachtende „Stämme“ anstelle geteilter Öffentlichkeit. Die Rezeption der Digitalisierung konzentriert sich heute mindestens so sehr auf das Internet als Hass- und Verrohungsmaschine, wie auf sein Emanzipationspotenzial. Dass nicht nur Bürgerbewegungen, sondern auch autoritäre Regime die Chancen des Internets zu nutzen wissen, wird natürlich ebenfalls wahrgenommen.
Gleichzeitig ist offenbar geworden, dass sich mit transnational agierenden Tech-Giganten wie Facebook und Google eine parasitäre Überwachungsökonomie entwickelt hat, die sich – politisch schwer zu regulieren – von den privatesten Daten ernährt. Auch die Suchtpotenziale von Smartphones oder Web-Games sowie der krankmachende Stress, der durch ständigen Erreichbarkeitszwang und die mindestens implizite Pflicht zur Vernetzung besteht, werden häufiger thematisiert...