Der Tagesspiegel, 9.6.2020
Es ist ja auch wirklich eine Zumutung. Eine blinde organische Kleinststruktur, die grundlos wie aus dem Nichts erscheint und jede Illusion von Kontrolle plötzlich als solche offenbart. Ein Virus, das alle Routinen irritiert, vermeintliche Sicherheiten blitzartig abräumt – und niemanden kann man verantwortlich machen, keine Macht soll das ausgeheckt haben?
Reflexartig stürmten die Posterboys der verschwörungsideologischen Szene – die Jebsens, Naidoos und Hildmanns – im Zuge der Krise aus der Echokammer hinaus auf die Straße, um die Querfront verunsicherter Antimodernisten unterm Banner der „Wissenden“ zu einen. Was vor ein paar Jahren die Montagsdemo war, heißt in Pandemiezeiten „Hygienedemo“.
Und auch wenn der vielerorts von Nazis und Antisemiten dominierte Protest gerade in die digitalen Nischen zurückkehrt, aus denen er anfänglich herausgequollen war – der als Freigeisterei verkleidete Ungeist ist damit nicht aus den Köpfen verschwunden.
In unübersichtlichen und krisenhaften Zeiten ist der Wille zur Mustererkennung stark ausgeprägt, haben einfache Antworten stets Konjunktur: simplifizierende und uralte Mythen, die die Komplexität des Weltgeschehens einebnen, Zufälligkeiten beseitigen helfen und jedes Übel auf Personen reduzieren – meistens auf die üblichen Verdächtigen, die Sündenböcke des Okzidents seit mehr als 2000 Jahren. Denn wo das Böse einen Namen bekommt, ist der „ewige Jude“ als Feindbild nicht weit. Analog zu einer Wendung von Max Horkheimer gilt: Wer vom Antisemitismus nicht sprechen will, sollte auch von Verschwörungsmythen schweigen.
Was aber genau ist die sozialpsychologische Funktion verschwörungsideologischer Weltbilder? Warum haben diese so überaus häufig einen antisemitischen Hintergrund? Welche erkenntnistheoretischen Fehler begehen die einschlägigen Akteure? Zirkulieren solche Mythen heute zahlreicher als früher und was ist ihr historischer Ursprung?...