Der Tagesspiegel, 14.8.2020
Der Mund-Nasen-Schutz ist zum globalen Symbol der Coronakrise geworden. Bei den maskenverweigernden „Hygiene-Demonstranten“ und im aktuellen Streit um die Maskenpflicht in Schulen steht sie auch für Kämpfe um die Deutungsmacht. Warum hat sich ein kleines Stück Stoff plötzlich zum gesellschaftlichen Zündstoff entwickelt?
Womöglich werden die Auseinandersetzungen um die Einführung einer Maskenpflicht in Teilen der Öffentlichkeit verständlicher, wenn man einen Blick auf ähnliche Debatten aus der jüngeren Vergangenheit wirft – etwa um die Einführung der Gurtplicht im Auto. Auch gegen den Sicherheitsgurt gab es seinerzeit massive Widerstände, die sich indes irgendwann in Luft auflösten. Trugen zu Beginn der 70er-Jahre nur fünf bis fünfzehn Prozent der Autofahrer einen Sicherheitsgurt, erhöhte sich die Zahl nach Einführung der Pflicht zwar langsam aber kontinuierlich – und lag gegen Ende des Jahrzehnts bei etwa 70 Prozent.
Erst aber nachdem der Gesetzgeber im Jahr 1984 ein Bußgeld eigeführt hatte, stieg die Quote der Gurttragenden schlagartig auf 92 Prozent. Heute sind es beinahe 100, das Tragen des Dreipunkt-Sicherheitsgurtes hat sich gesellschaftlich normalisiert. Auch hier wurde erst einmal die Einschränkung persönlicher Freiheiten moniert. Man fühlte sich gefesselt und eingeengt, fürchtete sich vor plattgedrückten Brüsten und Knickfalten in Blusen und Sakkos. Heute erscheint uns das völlig absurd.
Könnten wir das öffentliche Tragen von Hygienemasken also genauso selbstverständlich kultivieren? Vielleicht über Corona hinaus, um den Nächsten auch vor Grippe und Erkältungen zu schützen? Braucht eine neuartige Praktik bloß eine Weile um sich im kollektiven Habitus zu verankern? Oder gibt es kulturelle und historische Gründe, aufgrund derer viele Deutsche und andere Europäer das Maskentragen beargwöhnen?...