Der Tagesspiegel, 17.10.2021
Das moralinsaure Gesinnungsregime einer linksliberalen Kaste genderwahnsinniger Lastenradfahrer:innen bedroht die Freiheit der Meinung und des Forschens und letztlich die Demokratie: So lautet ein in rechtsextremen, konservativen und linksreaktionären Kreisen mantraartig abgespultes Stammtischnarrativ. Die zeithistorische Perspektive aber offenbart, dass die Demokratie weniger durch die Hypermoralisierung progressiver als durch die Entmoralisierung konservativer Positionen in Gefahr ist.
Wenn den Grünen von Seiten der Union vorgeworfen wurde, sie argumentierten mehr moralisch als politisch, ist das ein rhetorischer Taschenspielertrick. Denn natürlich trifft auch und insbesondere der Konservatismus starke normative Aussagen darüber, wie wir als Menschen zusammenleben sollten. Politik ist grundsätzlich moralisch imprägniert, oder besser gesagt: Sie sollte es sein.
Dass Demokratien sterben, wenn der Konservatismus ethische Standards über Bord wirft, ist politologisch und historisch verbürgt. Zuletzt hat dies das personifizierte Feindbild der Identitären Bewegung, die Wiener Autorin Natascha Strobl, gezeigt. In ihrem Buch „Radikalisierter Konservatismus“ zeichnet die Politikwissenschaftlerin nach, wie Teile des bürgerlichen Lagers in der Vergangenheit wiederholt den dünnen Zwirn zivilisierter Normen abstreiften, sich ihrem Wunsch nach Autoritärem ergaben und einen taktischen und/oder ideologischen Turn zum Rechtsextremismus vollzogen. So dienten bürgerliche Kräfte stets als Steigbügelhalter verbrecherisch-menschenverachtender Regime. Das Amalgam aus Konservatismus und Rechtsextremismus besiegelte das Ende der Weimarer Republik, zeitigte in Österreich den Austrofaschismus und putschte in Spanien die Francisten an die Macht.
Doch die „Radikalisierung“ konservativer Kräfte in unübersichtlichen Zeiten ist auch für die Gegenwart maßgeblich. Ein beredtes Beispiel ist die autoritäre Wende der US-amerikanischen Republikaner, die mit Trump ihren vorläufigen Höhepunkt fand, aber bereits mit Newt Gingrich begann, der in den 1990er-Jahren politische Gegner zu Feinden erklärte. Auch der Rückbau rechtsstaatlicher Institutionen in Orbans Ungarn und die Adaption identitärer Sprechweisen durch Österreichs eben abgedankten Kanzler Sebastian Kurz sind Anzeichen faschisierten Konservatismus‘.
Kennzeichnend für diesen höchstens semidemokratischen Polit-Hybriden – so hat es neben anderen der Harvard- und WZB-Professor Daniel Ziblatt beschrieben – sind die dichotome Freund-Feind Rhetorik, der Anspruch, die Stimme des Volkes zu sein, ein schleichender Angriff auf die Pressefreiheit und andere demokratische Institutionen, sowie ein taktisches Verhältnis zu Fakten und Fake News.
Dass viele dieser Merkmale auf den ÖVP-Kanzler Kurz zutreffen, war auch schon vor den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen ihn und vor seiner Vorwärtsflucht bekannt. Umso bedenklicher ist es, dass namhafte Stimmen der CDU – wie der Chef der Jungen Union Tilman Kuban – fordern, es brauche einen deutschen Sebastian Kurz. In Zeiten da gesellschaftspolitisch linke Ideen in den Mainstream drängen, wird der Konservatismus notorisch nervös. Ob die verstörte Union den Merkelschen Weg einer moderaten Öffnung für fortschrittliche Konzepte weiterverfolgt oder der rechtspopulistischen Versuchung erliegt, ist heute keineswegs ausgemacht.