Der Tagesspiegel, 27.01.2022
Am heutigen Donnerstag jährt sich die Befreiung von Auschwitz zum 77. Mal. Bald wird es keine Überlebenden mehr geben, die der Nachwelt vom Holocaust aktiv berichten. Mit dem Tod der letzten Zeitzeug:innen könnte das Ereignis historisch erstarren, in eine ferne Vergangenheit rücken, die den Heutigen kaum noch etwas sagt.
Allein – aktuelle Zahlen sprechen gegen die Befürchtung, jüngere Menschen meinten nun häufiger, dass die Shoah sie nichts angehe. So zeigen zwei repräsentative Befragungen – eine Studie der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und eine des internationalen Dokumentationszentrums Arolsen Archives – dass Menschen zwischen 16 und 25 Jahren an den NS-Verbrechen mehr interessiert sind als ihre Eltern und der bundesdeutsche Durchschnitt. Es gebe eine höhere Sensibilität, auch würde der alltägliche Gegenwartsrassismus in den Horizont der Ausgrenzung von früher gestellt.
Dass die Generation Z ihre Lebenswelt im Spiegel der NS-Verfolgung betrachtet, ist ein gedenkkultureller Gewinn. Wenn die Forderung Theodor W. Adornos, Auschwitz dürfe sich nicht wiederholen, zur dominanten Haltung der Jugend avancierte, hätten Faschisten ein Nachwuchsproblem.
Und doch wäre es fahrlässig zu glauben, mit der Erinnerungskultur gäbe es nun keine Probleme mehr. So legt die Arolsen-Studie nämlich ebenfalls nahe, dass die NS-Zeit auf jüngere Menschen eine Art lustängstliche Faszination ausübt. Die beteiligten Forscher:innen erklärten, für viele gleiche die Beschäftigung mit dem Thema einer Art „Mutprobe“, es würde wie ein „True-Crime-Format“ konsumiert.
Nun ist das ritualisierte Erinnerungstheater, auf dem die Nachfahren der Täterinnen und Täter die kollektive deutsche Wiedergutwerdung aufführen, immer wieder heftig kritisiert worden. Die automatisierte Gedenkpietät durch neuere Zugänge aufzubrechen, könnte eine Bereicherung sein. Mittels historisch-politischer Bildung muss aber gleichzeitig klar gemacht werden, dass die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden nur sehr bedingt zum kulturindustriellen Konsumgut taugt.
Ferner fördern beide Studien zu Tage, dass es heute einen „unbefangeneren Zugang“ junger Leute zum NS-Thema gibt. Für einen großen Teil der Befragten spielen familienhistorische Bezüge überhaupt keine Rolle. Zum einen, weil die deutsche Gesellschaft diverser geworden ist – viele Menschen mit Migrationsgeschichte haben schon deshalb ein anderes Verhältnis zur NS-Zeit, weil ihre Vorfahren eher selten ins Mordgeschehen involviert waren.
Doch auch die "weißdeutsche" Jugend von heute kennt oft kaum noch ein (Ur)-Großelternteil, das als Täter oder Mitläuferin, als Nutznießerin oder Zuschauer dabei war, als man die Nachbarn deportierte. Auch das kann man erst einmal als Chance begreifen. Die größere Unbefangenheit könnte den oft schambehafteten Umgang von autochtonen Deutschen mit Juden entkrampfen. Zudem könnte es den weit verbreiteten schuldprojektiven Post-Shoah-Antisemitismus eindämmen helfen, wenn das Bedürfnis, den heißgeliebten Opa von Schuld freizusprechen, entfällt.
Wenn das Gefühl, familiär involviert zu sein, gänzlich ausbleibt, kann sich aber durchaus auch die Haltung verbreiten, der Holocaust sei zwar eine schreckliche Geschichte, die einen aber keineswegs persönlich betreffe. Die Wahrheit aber bleibt, dass hier nicht irgendwelche Menschen irgendwelche anderen Menschen ermordet haben – sondern eben Deutsche Jüdinnen und Juden. Dieser spezifischen Verantwortung hat sich jede Generation von Deutschen auch in Zukunft zu stellen.
Insofern hinterlassen die Ergebnisse der Studien einen ambivalenten Eindruck: Das Abrücken des Holocaust in die Geschichte ist nach wie vor eine Gefahr. Durch Bildungsprogramme flankiert, die an die Erfahrungswelt junger Menschen anknüpfen, birgt deren gesteigertes Interesse am Thema aber auch eine Chance für lebendiges Erinnern.