Der Tagesspiegel, 15.03.2022
Er begründet seinen Krieg mit einer Geschichtskonstruktion. Doch am Ende könnte Putin das Gegenteil dessen bewirken, was er eigentlich beabsichtigt.
Seit Russland die Ukraine überfallen hat, rätselt die hiesige Öffentlichkeit über die Motive des Kreml-Diktators. Er wird wahlweise als wahnsinniger Megalomane oder kühl-kalkulierender Stratege beschrieben. Wie auch immer es um Putins Psyche bestellt ist – klar ist, dass er seinen Angriffskrieg auch mit historischen Erzählungen begründet. Mythen einer russischen Entwicklungsgeschichte vom Mittelalter bis in die jüngste Vergangenheit sollen seine Übergriffe legitimieren. Die „russische Welt“ gilt als essentielle Einheit, die über den zeitlichen Wandel erhaben und gegen Irrwege und Fehler der Geschichte unbedingt wiederherzustellen sei.
Wie wirkt diese historisch-ideologische Weltsicht im Einzelnen auf Putins Expansionspolitik? Welche weiteren Absichten lassen sich aus seiner Geschichtskonstruktion herauslesen? Und wie tief ist der Mythos des Altrussischen, der die Ukraine als „künstlich“ diffamiert, in der heutigen russischen Gesellschaft verankert?
„Putin bezieht sich auf unterschiedliche historische Mythen, die einander durchaus widersprechen, und versucht sie in eine stimmige Erzählung einzufügen“, sagt der Jenaer Osteuropa-Historiker Joachim von Puttkamer. Ein Mythos ist in diesem Sinne keine Erfindung, sondern eine selektive Lesart der Geschichte, die an Gefühle und Vorstellungen kollektiver Identität appelliert. In Putins Rhetorik vermische sich...