Der Tagesspiegel, 16.03.2022
In „Gojnormativität“ beschreiben Judith Coffey und Vivien Laumann, wie es ist, als Jüdin unter Nicht-Juden zu leben – und zeigen Leerstellen in linken Debatten auf.
Wer „weiß“ ist, wird in Deutschland nicht als „weiß“ wahrgenommen, sondern in der Regel als „normal“. Max ist der Mustermann, Muhammad nicht. Wenn Max vom Vermieter eine Absage bekommt, weiß er, dass es nichts mit der Farbe seiner Haare und sicherlich nichts mit seinem Namen zu tun hat. Die theoretische Schule der „Critical Whiteness“ fasst „weißsein“ nicht als eine Hautfarbe auf, nicht als ontologische Kategorie, sondern als gesellschaftlich begründeten Status, der mit einem Set von Privilegien verknüpft ist. Demnach geht Rassismus über die weltanschauliche Verirrung expliziter Rassist:innen bei weitem hinaus – er ist ein gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis, in das jede und jeder involviert ist.
Und was ist mit Jüdinnen und Juden? Sind sie im machtförmigen Raum der Gesellschaft privilegiert und als „weiß“ zu bezeichnen? Warum weite Teile der Linken dies meinen und Antisemitismus in den Debatten um Mehrfachdiskriminierung höchstens eine untergeordnete Rolle spielt, erklären die beiden jüdischen Autorinnen Judith Coffey und Vivien Lauman in ihrem aufschlussreichen Werk „Gojnormativität“.
„Goj“ ist das rein beschreibende Wort, mit dem Jüdinnen und Juden Nicht-Juden bezeichnen. Diese aber seien es, die bestimmten, was normal sei. In der christlichen Kultursphäre und nicht zuletzt in Deutschland, gelte das Jüdische als Anomalie, führen Coffey und Lauman auch mit einem Blick auf ihre eigenen Erfahrungen aus.
Die Gesellschaft sei mitnichten nur hetero- und „weiß“, sondern auch in höchstem Maße gojnormativ – und das auch in ihren linken und queeren Bereichen. Die beiden Autorinnen, selbst in queer-feministischen Szenen aktiv, kritisieren ihre eigenen Genoss:innen hier als vielfach antisemitismusvergessen. Ähnlich wie in anderen Gesellschaftssegmenten werde der Antisemitismusvorwurf oft mehr beanstandet als der Antisemitismus selbst. Dieser müsse in intersektionalen Debatten endlich als eigenständige Diskriminierungserfahrung ernstgenommen werden. Hierfür empfehlen die beiden – analog zu Gegensatzpaaren wie „weiß“ und BPoC oder hetero und queer – auch das Verhältnis von Nicht-Juden und Juden als Machverhältnis zu beschreiben. So könne eine Person auf der Herrschaftsachse Rassismus als privilegiert gelten und als Betroffene von Antisemitismus gleichzeitig diskriminiert werden. Immer wieder betonen Laumann und Coffey, es gehe ihnen nicht um Opferkonkurrenzen, sondern darum, solidarische Bündnisse zu knüpfen.
Der Weg dahin aber scheint beschwerlicher zu sein, als man auf den ersten Blick annehmen könnte. So würden Jüdinnen und Juden in vielen intersektionalen Debatten einfach als privilegierte Weiße wahrgenommen. Die „gojnormative“ Perspektive dominiere und blende die Erfahrungen von Juden meist aus. Jene sei nicht selten mit dem Hinweis verbunden, Juden könnten sich ja „unsichtbar“ machen – im Gegensatz zu People of Colour. Die Möglichkeit, sich „unsichtbar“ zu machen, also „weißsein“, sei ein enormes Privileg, so die Autorinnen – zur „Unsichtbarkeit“ aber verdammt zu sein, keins. Wenn Juden sich Gojim als Juden offenbaren, sei es mit dem „weißsein“ vorbei, zumal zum Beispiel mizrachische Juden ohnehin nicht als „weiß“ gelten würden. Offen jüdisch zu leben ohne angefeindet oder wie ein Außerirdischer behandelt zu werden, ist in zahlreichen Gegenden der Welt tatsächlich keine Option.
Das wohlfeile Unsichtbarkeitsargument reproduziert dabei selbst ein antisemitisches Stereotyp, nämlich die Erzählung eines heimlichen Einnistens assimilierter Juden im „Volk“. So sollte der gelbe „Judenstern“ der Nationalsozialisten vor allem dazu dienen, Jüdinnen und Juden aus ihrer sogenannten „Unsichtbarkeit“ herauszuzwingen und sie als „artfremd“ zu markieren. Jüdinnen und Juden in diskriminierungskritischer Perspektive als „weiß“ zu bezeichnen, ist dabei schon deshalb im höchsten Maße zynisch, weil sie im NS als lebendiger Widerspruch zur „arischen Rasse“ definiert wurden. Ein Hirngespinst, das auch in unserer Zeit, immer noch Wirkungen entfaltet.
In manch linken Zusammenhängen werde Antisemitismus jedoch nur als Problem der Vergangenheit betrachtet, schreiben Coffey und Laumann. Oder als Subkategorie von Rassismus, was die historischen und ideologischen Besonderheiten des Antisemitismus ausblendet.
Was den Antisemitismus von anderen Rassismen oder Xenophobien unterscheidet, ist vor allem die komplexere Struktur des Ressentiments. So definieren Antisemiten ihre Hassobjekte als schwach und übermächtig zugleich, sie begreifen „die Juden“ als minderwertig und sehen sie als heimliche Herrschende an.
Was in „Gojnormativität“ fehlt, ist ein Ausgriff in die Geschichte des christlichen Antijudaismus, dessen überlieferte Stereotype in die biologistische Verschwörungserzählung des modernen Antisemitismus Einzug hielten. Der im europäisch-imperialistischen Kontext entstandene Kolonialrassismus hat demnach eine andere Genealogie. Die verschiedenen Entstehungsgeschichten führen trotz inhaltlicher Überschneidungen auch zu Differenzen in den sozialpsychologischen Funktionen unterschiedlicher Hassformen. Auch vermisst man in der Darstellung von Coffey und Laumann einen Seitenblick auf den sogenannten zweiten Historikerstreit, der die teilweise antisemitisch induzierte Antisemitismusblindheit von einigen postkolonialen Denker:innen jüngst recht anschaulich gemacht hat.
Dies ist aber Mosern auf hohem Niveau, zumal Judith Coffey und Vivien Laumann mit ihrem schmalen und inhaltsreichen Band keine systematische Antisemitismuskritik vorlegen wollen. Vielmehr geht es ihnen um die beklagenswerten Effekte einer gojnormativen Gesellschaft und die Möglichkeiten jüdischen Empowerments. Die staatstragende deutsche Erinnerungskultur sei dabei insofern gojnormativ, als die einschlägigen Rituale für ein „weiß“-christlich-deutsches Publikum konzipiert seien, das in einer großen Gedenkinszenierung die eigene Läuterung ausstelle. Hier knüpfen die Autorinnen an die Gedanken anderer jüdisch-deutscher Intellektueller wie Max Czollek oder Sasha Marianna Salzmann an, die sie auf ihre Weise weiterentwickeln.
So kämen in der pathetischen Schuld-und-Sühne-Erzählung der Täter-Nachfahren kaum jüdische Perspektiven vor. Auch die erinnerungspolitische Bildung in Schulen und Gedenkstätten sei für ein gojisches Publikum gemacht. Dass sich unter den Schüler:innen, die über den Holocaust belehrt werden, auch jüdische Menschen befinden könnten, deren Verwandte verfolgt und ermordet worden sind und die unter den von Generation zu Generation weitergegebenen Traumata leiden, werde oft nicht in Erwägung gezogen. Coffey und Laumann erzählen dabei auch, wie sie sich in gojnormativer Umgebung daher häufig einsam und hoffnungslos fühlten.
Dass die präzise Gesellschaftsanalyse von persönlichen Anekdoten durchbrochen wird, macht „Gojnormativität“ zu einer eindrücklichen Lektüre. Spannend auch, dass wie nebenbei diskutiert wird, was es heißt, Jüdin oder Jude zu sein. Auf knappem Raum führen die Autorinnen aus, warum sich Jüdischsein in die klassischen Identitätskategorien Volk, Religion oder Kultur nicht fügt und simple Zuordnungen unzulänglich sind. Menschen mit jüdischen Bezügen haben mit „Gojnormativität“ die Möglichkeit eine eigene Sprache für ihre oft unartikulierten Diskriminierungserfahrungen zu entwickeln. Alle anderen können lernen, was es für Jüdinnen und Juden bedeutet, in einer gojischen Mehrheitsgesellschaft zu leben. Denn Antisemitismus zeigt sich nicht bloß exzessiv, wie im Attentat von Halle an Jom Kippur 5780. Für viele Menschen ist er eine Alltagserfahrung.
Judith Coffey, Vivien Laumann: Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen. Verbrecher Verlag, Berlin 2021. 193 Seiten, 18 €.