Der Tagesspiegel, 19.06.2022
Digitale Medien können entfremdend und erschöpfend wirken, meinen Experten. Warum der direkte Kontakt nicht zu ersetzen ist. Eine Analyse.
Juni 2022: Hände greifen wieder automatisch ineinander, Menschen fallen sich gelöst in die Arme. Wie in den Sommern der vergangenen Jahre, erscheint die Pandemie mit ihren Abstandsgeboten heute vielen wie ein surrealer Spuk. Doch unabhängig davon, ob es mit den sich ausbreitenden Omikron-Subtypen abermals ein böses Erwachen geben wird oder das Virus seinen Schrecken verliert und als Hintergrundrauschen einfach hingenommen wird – der Digitalisierungsschub der jüngeren Vergangenheit setzt sich mit Sicherheit fort.
Die leidigen Corona-Jahre haben offenbart, dass Arbeits- und Kommunikationsprozesse vielfach digital absolviert werden können, dass Meetings, Besprechungen oder Konferenzen auch über Zoom & Co. funktionieren. Zurecht wurde gelobt, dass internationale Tagungen nicht mehr notwendig in Präsenz stattfinden müssen, was Teilnahmen niedrigschwelliger gestaltet und außerdem dem Klimaschutz zuträglich ist. Auch dass sich Lohn- und Care-Arbeit im Homeoffice besser verbinden lassen, erleichtert vielen Menschen ihren Alltag.
Zugleich aber hat die Pandemie uns gezeigt, wie wichtig es für ein Gemeinschaftsgefühl ist, einander leibhaftig erleben zu können, ja dass der durch die Bildschirme vermittelte Austausch den echten Kontakt schlecht substituiert.
Warum aber ist das so? Was macht die Zoom-Routine mit uns, unserem Blick auf uns selbst und die Gesprächspartner:innen? Warum hinterlassen digitale Calls uns häufig erschöpft vor den Geräten zurück, entfremdet, ja teilweise „derealisiert“, wie mehrere Studien gezeigt haben? Ist die körperliche Unmittelbarkeit für Nähe und Kollegialität essentiell, so dass wir ihre digitale Simulation – zumindest, wenn das Seuchengeschehen es gestattet – auf das notwendige Minimum herunterfahren sollten?
Die Psychologie, die soziale Neurowissenschaft und die philosophische Disziplin der Leibphänomenologie legen diesen Schluss recht eindeutig nahe. Zunächst einmal fällt auf, dass es in digitalen Räumen kaum möglich ist, sich wirklich in die Augen zu schauen. „Der Blick aber ist das wichtigste soziale Signal“, sagt der Interaktionsforscher & Psychiater Leonhard Schilbach, Chefarzt und Stellvertretender Direktor am LVR-Klinikum Düsseldorf im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Dem französischen Philosophen Emmanuel Levinas zufolge „spricht“ das Antlitz des anderen zu uns, es nimmt uns in Verantwortung, fordert uns heraus. Wenn wir einander in die Augen schauen, ist es unmöglich, nicht zu reagieren.
So sei unser Gehirn darauf ausgerichtet, offen zu sein für den Blick des Gegenübers...