Der Tagesspiegel, 16.11.2022
Das Pathos der Freiheit hat in unseren Zeiten mitunter eine aggressive Form angenommen: Vor Wut schäumende Intellektuelle inszenieren sich öffentlich als letzte Advotkat:innen der Freiheit gegen angebliche Meinungsmonopole. Hasserfüllte Hippies lehnen Seuchenschutzmaßnahmen als diktatorische Zumutung ab und halten ihre bauchgefühlte Querdenker-Wahrheit dem offiziellen Wissen der Forschung entgegen. Antidemokratische „Widerständler:innen“ meinen ihre Freiheit gegen „die Eliten“ und gegen Migrant:innen verteidigen zu müssen.
Nun war Freiheit schon immer ein schillernder Begriff, der, mit verschiedenen Vorzeichen versehen, auch gegensätzlichen politischen Projekten als handlungsleitendes Motto dienen konnte. Bürgerliche, ebenso wie linke Akteure meinen seit jeher für die Freiheit zu streiten.
In der Gegenwart aber scheint sich immer häufiger ein regelrechter Freiheitsextremismus zu gebärden. Das autarke Individuum geht in dieser Weltsicht den Dingen gekonnt alleine auf den Grund, für sein sektiererisches Sonderbewusstsein braucht es keine akademische Belehrung. Jede gesellschaftlich gebotene Beschränkung, etwa Rücksichtname auf vulnerable Gruppen, wird als eklatante Zumutung erlebt – und mit mindestens rhetorischer Gewalt kompensiert.
Wer wissen will, was es mit dieser exzessiven Form des individualistischen Freiheitsmodells auf sich hat, sollte das Buch „Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus“ von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey lesen. Der Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel und die an der gleichen Hochschule lehrende Literatursoziologin begreifen die auf den ersten Blick paradox anmutende Verbindung aus Freiheit und Autoritarismus als ein morbides Symptom neoliberaler Vergesellschaftung: „Der libertär-autoritäre Protest richtet sich gegen die spätmoderne Gesellschaft, rebelliert aber im Namen ihrer zentralen Werte: Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung.“
Die durch eine fortschreitende Singularisierung der Gesellschaft und den neoliberalen Raubbau an sozialstaatlichen Errungenschaften geprägte Spätmoderne erweise sich mit ihren meist uneinlösbaren Freiheits- und Selbstverwirklichungsversprechen als systematischer Enttäuschungsgenerator. Die formale Freiheit stößt auf faktische Grenzen; radikal gekränkt flieht sie wütend nach vorne und fordert sich selbst in exzesshafter Gestalt. Sie „verdingliche“ sich radikal, so Amlinger und Nachtwey: Zur Freiheit eines kompetitiven Konsums. Man bestreite ihre institutionellen Bedingungen, verleugne, dass Freiheit in Gesellschaft geschieht – diese werde folglich als „privater Besitzstand“ und nicht mehr als „gesellschaftlicher Zustand“ begriffen. Zugespitzt formuliert sind die libertär-autoritären Charaktere, die Amlinger und Nachtwey empirisch erforschen und als Subjektform theoretisch konturieren, die vom Neoliberalismus gerufenen Geister, die dieser nun nicht mehr einzufangen weiß.
Dabei geht es den beiden keineswegs nur um die vielfältigen regressiven Coping-Strategien, mit denen einige, doch keineswegs alle Menschen auf die Unbill der Spätmoderne reagieren. Sie befassen sich genauso mit den Zumutungen selbst, mit den Nebenwirkungen der Modernisierung, dem im Fortschritt oft enthaltenen Keim der Regression, der bedingt, dass die Freiheit in ihr Gegenteil ausschlägt. So bietet „Gekränkte Freiheit“ weit mehr...