Tagesspiegel, 03.12.2023
Der Krieg zwischen Israel und der Hamas und der geifernde Judenhass im Netz und auf der Straße haben meine Gedanken- und Gefühlswelt okkupiert, mir eine depressive Episode beschert. Körper und Geist sind von Angst überwältigt, ich bin hoch agitiert, rauche eine nach der andern. Israel kämpft um seine Existenz, Juden leben allerorts in feindlicher Umgebung, und ich leide an der Welt wie noch nie in meinem Leben.
Die islamistische Hamas hat bestialisch gemordet, der Staat der Juden schlägt vehement zurück, dabei Bilder vom Leid in Gaza produzierend, die die öffentliche Meinung umkehren werden, vielfach jetzt schon umgekehrt haben, wo es anfänglich Mitgefühl gab. Die aufgeschreckte Solidarität im Angesicht abgeschlachteter Kleinstkinder verebbt – am Ende wird Israel als Schuldiger gelten. Auch, dass Juden wieder in Todesangst leben, dass dazu aufgerufen wird, sie global anzugreifen, ihre Wohnungen mit Davidsternen markiert werden und Molotow-Cocktails auf Synagogen fliegen, treibt in Deutschland und überall sonst viel zu wenige Menschen auf die Straße. All das löst Trauer und Furcht in mir aus – wie kein anderes Ereignis, dessen Zeitzeuge ich war.
Auch viele meiner Freunde hat das Massaker geschockt, und das häufige Fehlen der Empörung empört. Und doch meine ich, zwischen meinem eigenen Empfinden und den Gefühlen vieler Menschen, die ich kenne, eine Art Abstand wahrnehmen zu können. Auch ist da eine Kluft zwischen jenem Entsetzen, das mich selbst ob der Gräueltaten in Butscha überfiel und dem Pogrom vom 7. Oktober. Auch jene haben mich entsetzt und verstört – dieses aber geht mich im Innersten an. Ich spüre eine existentielle Angst – nicht vor Flächenbränden oder einem weiteren Weltkrieg, sondern vor der Auslöschung des jüdischen Staates. Ich frage mich momentan, warum das so ist.
Bin ich Jude und brauche somit Israel als Fluchtpunkt, als möglichen Schutzraum vor jener Gewalt, die Diaspora-Juden seit Jahrhunderten erfahren? Nein, ich bin kein Jude. Weder durch meine Mutter noch väterlicherseits, also weder halachisch noch patrilinear. Und doch bin ich auch nicht nicht-jüdisch wie die meisten meiner Freunde. Denn für diese war ich stets jüdischer als sie. Seit Schulzeiten hat mich mein Umfeld auf meinen jüdischen Background verpflichtet – aufgrund zweier Großväter, die von den Nazis als mehr oder weniger jüdisch definiert wurden.
Mein Großvater mütterlicherseits, Otto Citron, galt nach den Nürnberger Rassegesetzen als sogenannter „Drei-Viertel-Jude“. Das biologistische Wahnsystem der Nazis hätte ihn so eigentlich zum „Volljuden“ gemendelt und für das Massenschicksal Auschwitz bestimmt. Seinen Vater, den „volljüdischen“ Richter Fritz Citron, hatte man...