tip, 26.8.2013
Es ist die Nacht zum 12. April 2013. Jesse E. hat an diesem Abend in Friedrichshain seinen neunundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, in seiner alten WG, und ist auf dem Heimweg in Richtung Charlottenburg. Am Alexanderplatz will er umsteigen, vom Nachtbus N 5 in den N 2, die letzte Ringbahn hat er knapp verpasst. Drei besoffene Typen pöbeln ihn an, fordern seinen Rucksack; als er die Herausgabe verweigert, antworten sie mit Schlägen ins Gesicht und treten noch kräftig nach, als Jesse längst am Boden liegt; er wacht im Krankenhaus auf, vom Rattern des Kernspintomografen; Nasenbeinbruch und schweres Schädelhirntrauma, tagelang kann er sich an nichts erinnern. Die Polizei nimmt die Aussage seines ehemaligen Mitbewohners auf, den er unmittelbar nach der Attacke völlig verwirrt telefonisch über den Vorfall informiert hat, Minuten, bevor sich sein Kurzzeitgedächtnis dann verabschiedete.
Seitdem der junge Johnny K. in der Nacht zum 14. Oktober 2012 – also ein knappes halbes Jahr vor dem Angriff auf Jesse E. – am Alex durch eine Prügelattacke ums Leben kam und der ein oder andere Medienbeitrag den Platz zur Gewaltzone deklarierte, hat die Polizei die Präsenz in der stark frequentierten Gegend verstärkt – sowohl am eigentlichen Alexanderplatz rund um die Weltzeituhr und den Brunnen der Völkerfreundschaft als auch im Gebiet um den Fernsehturm und die Marienkirche. Das sogenannte Kontaktmobil, Anlaufstelle für umherirrende Touristen und Warnsignal für potenzielle Straftäter, ist 24 Stunden vor Ort – aber nur am Wochenende. „Weil da für gewöhnlich mehr Alkohol im Spiel ist“, sagt Sigrid Brandt vom Abschnitt 32, seit beinahe drei Jahrzehnten beschäftigt bei der Berliner Polizei. Für eine 24/7-Streife reichen die Kapazitäten nicht aus. Jesses Geburtstag fiel auf einen Wochentag.
Der Alexanderplatz ist aber nicht nur ungemütlich und zuweilen gefährlich – vor allem nachts, wenn sich aufgestaute Aggressionen im Alkoholrausch Bahn brechen – er ist auch hässlich. „Vielleicht der hässlichste Platz in ganz Berlin“, findet Heike N., groß geworden vor der Wende im Osten Berlins und Richterin am Landgericht in der Littenstraße, in einem Prachtbau, der allerdings genau wie das Rote Rathaus und die Marienkirche nicht voll zur Geltung kommt, im Schatten der ewigen Baustelle in der Betonwüste, zwischen den diversen Bausünden aus dem alten Osten und der neuen, wiedervereinigten Bundesrepublik. Das bunte Parkhaus, dann der gigantische Konsumtempel Alexa, der sich wie ein rosafarbener Darm über den Platz schiebt und täglich Myriaden von Menschen durch sich hindurchpresst, die alten Plattenbauten mit dem Grosny-Flair, in denen immer noch 80 Prozent der ursprünglichen Ost-Berliner leben, dann das quadratische Cubix. Irgendwie ein Flickwerk, das Ganze, unverbunden, zusammenhangslos. Der im Zuge der Wiedervereinigungseuphorie entstandene megalomanische Masterplan des Architekten Hans Kollhoff von 1993, der vorsieht, mit insgesamt zehn jeweils 150 Meter hohen Wolkenkratzern, die sich zur Mitte hin verkleinern sollen, dem Alexanderplatz Struktur zu verpassen, wird wohl nicht mehr umgesetzt. Senatsbaudirektorin Regula Lüscher hält den ursprünglichen Kollhoff-Plan für unrealistisch. Die Investoren sind nur wenig motiviert, sich am Alex zu engagieren. Und so wird der in der Kulturgeschichte immer wieder rezipierte Platz – Alfred Döblins Klassiker „Berlin Alexanderplatz“ und dessen Verfilmungen durch Piel Jutzi und Rainer Werner Fassbinder sind Beispiele – seine berühmt-berüchtigte Gestalt wohl nicht allzu bald aufhübschen.
Polizistin Sigrid Brandt mag den Alexanderplatz trotzdem. Sie fühlt sich hier zu Hause, findet die Atmosphäre „ganz außerordentlich“. Gerade das Unaufgeräumte scheint ihr zu imponieren: Die Musiker und Artisten, die Punker, die Touristen, die Flaschensammler und Obdachlosen, unterschiedlichste Menschen aus aller Herren Länder kommen hier zusammen. „Andere müssen extra herfahren, ich hab das jeden Tag“, sagt die Beamtin. Der Alex sei zwar statistisch gesehen ein „kriminalitätsbelasteter Ort“, von einer Problemzone möchte Sigrid Brandt aber nicht sprechen. „Da gibt es ganz andere Ecken.“ Und sie hat Recht: Dafür, dass täglich bis zu 400?000 Menschen am Alexanderplatz gezählt werden, passiert relativ wenig, das häufigste Delikt ist Taschendiebstahl; Raub und Raufhandel kommen seltener vor. „Die Touristen sind oft mehr oder weniger selbst schuld“, sagt Brandt, „stellen ihren Rucksack ab, um die Weltzeituhr zu fotografieren, und wundern sich dann, wenn der am Ende nicht mehr da ist.“
Sie trägt ihren Namen auf der Brust, damit sie nicht bloß eine Nummer ist für die Leute. Zu einigen der rund 20 am Alex „wohnhaften“ Punker und zu diversen Straßenkünstlern unterhält sie nach eigener Aussage ein kumpelhaftes Verhältnis. Überhaupt bemüht sich Sigrid Brandt, das „Law and Order“-Image der Polizei um das klassische Freund-und-Helfer-Narrativ anzureichern.
Ein Wohnmobil hat sich auf dem Alex verfahren, in einem Bereich, der für Kraftfahrzeuge eigentlich gesperrt ist. Die Halter des Fahrzeugs, dessen Armaturenbrett von Töpfen mit verschiedenen Kräutern gesäumt ist, zwei hippieske Spanier, wirken – aus ihrer Heimat vielleicht eher die weniger toleranten Praktiken der Guardia Civil als die nette Wachtmeisterin von nebenan gewöhnt – leicht verschüchtert, als Sigrid Brandt ihnen den Weg zurück auf die Straße weist.
Binnen kurzer Zeit wird die Polizistin auf ihrem Gang rund um den Platz mehrmals begrüßt oder um Auskunft gebeten, von Rikschafahrern, Trommlern und Touristen; zwei polnische Mittdreißiger mit leicht ramponierten Gesichtern und geöffneten Sternburgflaschen bitten Frau Brandt um Hilfe beim Erwerb eines Zugtickets nach Frankfurt (Oder). Sie wählt die Sprachauswahl des Fahrkartenautomaten: „Look here, Polski!“, sagt sie und strahlt. Die beiden Männer sind zufrieden.
Auch Witek J. und Lila T. kommen aus Polen, genau genommen aus Lodz. Seit ein paar Jahren fahren sie regelmäßig nach Berlin, im letzten November haben sie eine Wohnung in Neukölln bezogen. Witek ist 23 Jahre alt, jeden Tag spielt er vor Galeria Kaufhof Trompete, das Darth-Vader-Thema aus Star Wars, Ennio Morricone, den Soundtrack von „Beverly Hills Cop“ – „das, was Menschen kennen“, sagt er. Seine Freundin Lila (21) malt mit bunter Kreide große Gesichter auf den Stein, gestern hat sie einen androgynen Jim Morrison gemalt, heute das Antlitz einer namenlosen Frau, aus deren Haarspange der Fernsehturm herauswächst; mit jedem Bild werde sie besser, sagt die zierliche junge Frau mit den wachen Augen und den von bunter Kreide verschmutzten Händen. Mit Jim Morrisons Kinn ist sie unzufrieden. Aber sie lerne durch ihre eigenen Fehler.
Lila weiß genau, an welcher Stelle auf dem Alex sie mit dem Malen wie viel Geld verdienen kann – das variiert nach ihrer Aussage je nach Lage erheblich –, möchte das aber nur ungern in der Zeitung lesen. Auf jeden Fall können die beiden im Moment ganz gut von ihrer Arbeit leben. „Ob du Berlin nun magst oder nicht“, sagt Lila, „wenn du einmal hier warst, dann kommst du immer wieder.
Am Alex kennt man sich. Wer dauerhaft hier ist, findet seinen Platz und freundet sich mit den anderen an. Man steht einander bei, wenn’s drauf ankommt. Braucht der tschechische Trommler etwas Geld, helfen Witek und Lila ihm aus. Natürlich gibt es auch Konflikte hier. „Aber das meiste bleibt in der Familie.“ Bei Problemen, die von jenseits der „Familie“ herrühren, unterstützt einen manchmal die Polizei, meistens aber hilft man sich selbst. Das Ordnungsamt wollte Witek verbieten, auf dem Platz zu spielen, und ihm die Trompete für 24 Stunden wegnehmen, obwohl er nicht mal einen Verstärker verwendet – da hat ihn Sigrid Brandt vor den Maßnahmen der Ordnungsbeamten bewahrt. Sie findet, dass die Musik den Alex ausmacht, deshalb unternimmt sie zumeist auch nichts gegen verstärkte Instrumente, die eigentlich von Rechts wegen auf öffentlichen Plätzen verboten sind. Die Polizei ist freilich nicht immer vor Ort, wenn es Ärger gibt. Vor allem betrunkene Jugendliche, die für ein paar Cent fordern, Witek solle wiederholt dieses und jenes spielen – eine Praktik, die zuweilen in Nötigung ausartet – gehen ihm auf die Nerven. Die beiden wurden auch schon bestohlen: Geld aus dem Korb, Lilas Rucksack, sogar der Hund wurde entführt – von einer bekannten Schnorrerin vom Alex, mit der sich die beiden derzeit im Clinch befinden. Zwei Wochen lang haben sie ihren Vierbeiner, der auf den polnischen Namen Mewa hört, gesucht und ihn schließlich bei Ullrich am Zoo gefunden. In Zukunft werden sie besser aufpassen.
Die israelische Touristin Nitzan W. kommt aus einem Dorf in der Nähe von Haifa; sie ist nur ein paar Tage hier, kennt also nicht die Probleme der „Permanenten“. Nitzan ist 17 Jahre alt, nächstes Jahr muss sie zur Armee, jetzt tourt sie mit einer Freundin durch Mitteleuropa. Sie ist Trapezkünstlerin und begeistert von den Artisten, die sich im Rahmen des Berlin-lacht!-Festivals auf dem Platz gegenseitig durch die Luft wirbeln. Sie hat die Straßenkünstler beobachtet und sich dann selbst mitten auf dem Alex platziert, wo sie mit zarter Stimme israelische Volkslieder und Popsongs auf Iwrit zum Besten gibt. „Mehr zum Spaß“, wie sie sagt, „nicht des Geldes wegen.“ Von Berlin ist sie, wie die meisten Israelis ihrer Generation, begeistert; gerade vom Alexanderplatz schwärmt sie in den höchsten Tönen, von architektonischer Blamage will sie nichts wissen: „Es ist so viel Leben hier, das ist fantastisch, solche Feste haben wir in Haifa nicht, ich liebe es; man kann hier die Geschichten so vieler Menschen beobachten.“
Und sie hat Recht, der Alex ist ein Prisma der urbanen Vielfalt: Eine angolanische Katholikin missioniert neben dem jungen David aus Ungarn, der für die evangelikale, pseudojüdische Bewegung „Jews for Jesus“ unterwegs ist. Ein moldawischer Würstchenverkäufer – einer von vielen, der seinen Grill vor dem Bauch trägt – verkauft die dritte Bratwurst an Paula aus Nürnberg, die mit ihrer Freundin Sarah Urlaub in Berlin macht. An mehreren Plätzen zwischen Galeria Kaufhof, Saturn und C&A haben sich pakistanische Händler positioniert, die sowjetische Hammer-und-Sichel-Fellmützen und anderen nostalgischen Sowjet- und DDR-Tand feilbieten. Auf Bierbänken in unmittelbarer Nähe zu einem der Händler sitzen verschwitzte Engländer und kippen sich bei 35 Grad Hitze, mit eben jenen von den Pakistanis gekauften Russenmützen auf dem Kopf, ein Weizen nach dem anderen hinter die Binde. Ein paar Japaner bestellen Kanzlerinnen-Wurst aus der Uckermark bei Galeria Gourmet und fotografieren den Trompeter Witek, der soeben einen verspulten deutschen Flötisten, der, wie Witek meint, jeden Tag in seine Spielzone hineinflötet, mit einem wütenden, polnisch akzentuierten „Verpiss dich, Mann!“ vertreibt. Einige Meter weiter trinken Anzugträger bei hübschen, tätowierten Mädels Caipirinha.
Unter der S-Bahn-Brücke lungern die echten Punks und beobachten die H&M-Punks beim Beobachten des neuseeländischen Indie-Rockers, der mit Gitarre und Gesang von der Brücken-Akustik profitiert. Nebenan kuscheln zwei ältere Glatzköpfe in leichtem Lederdress bei einer Himbeer-Weiße auf den Sitzbänken der Besenkammer, jener schwulen Szenekneipe am Alex, die auch ab und an von Sigrid Brandt aufgesucht wird. „Nur so, um Kontakt zu halten“, wie sie meint und das sagt sie auch: „Total nette Leute, da muss man jetzt nicht unbedingt schwul sein oder so.“ Ein übergewichtiger Neonazi steht mit seinem Odin-statt-Jesus-T-Shirt in der Mitte des Platzes und starrt mit offenem Mund in die Landschaft. Ein Obdachloser badet im Brunnen. An einem Stand des WWF versuchen junge Mädchen, die Touristen für das Überleben des Tigers zu begeistern, mit einer Erfolgsquote von einem Prozent, wie die 22-jährige Berlinerin Luise D. erzählt, nur um gleich darauf von ihrer Vorarbeiterin dafür gescholten zu werden, dass sie Interviews gibt – anscheinend hat man zwar ein Herz für Tiere, dafür wird jede Pinkelpause der menschlichen Mitarbeiter aber mit Schimpftiraden geahndet. Vor C&A werden drei rumänische Staatsbürger nach einem Taschendiebstahl von Sigrid Brandts Kollegen in Handschellen gelegt, während eine sich ständig vergrößernde Traube gaffender Passanten mit Kameras und Fotohandys die Verhaftung dokumentiert. Und überall wird gesungen, getanzt, getrommelt, geguckt, gefeiert, gekauft.
Der Alexanderplatz mag über die Maßen hässlich sein, auch ungemütlich und dann und wann gefährlich. Ein aus Guinea stammender Mann wurde erst vor Kurzem zusammengeschlagen, eine rassistisch motivierte Tat. Im Neptunbrunnen starb ein wohl schizophrener nackter Berliner durch den Schuss eines Polizisten. Johnny K. hat hier sein Leben lassen müssen und Jesse E. ist nur durch Glück demselben Schicksal entgangen. „Das hätte mir aber woanders genauso gut passieren können“, sagt Jesse, der gebürtige Charlottenburger. Den Alexanderplatz meiden wird er deswegen aber nicht und auch das Sicherheitsszenario einer totalen Polizeipräsenz hält er für überzogen.
Irgendwie ist der Alex schließlich wie Berlin. Laut und hektisch, bunt und überlaufen, schillernd und dreckig, multikulturell und kreativ. Ein ewig unfertiges Gebilde, das sich wandelt und doch so bleibt, wie es ist, das man gleichermaßen hasst und liebt und wo jeder schon mal irgendwann gewesen ist.
Sigrid Brandt knipst mit ihrem Smartphone ein Foto von Lilas Jim-Morrison-Character: „Ist doch ein hammermäßiges Bild“, sagt sie. „Das muss ich festhalten, ist ja ein Unikat, morgen ist das weg.“