tip, 19.2.2020
Michael ist von Geburt dazu verdammt, als Stellvertreter von anderen zu leben. Nach dem Tod seines älteren Bruders gaben ihm die Eltern dessen Namen. Als Erwachsener ist er noch immer ein Mann ohne eigenes Profil. In wechselnden Kostümen lässt er Angestellte auflaufen, denen ihre Arbeitgeber Diebstahl unterstellen. Nachts steht er in seinem aseptisch anmutenden Wohnmobil als Zaungast vor dem Haus einer scheinbar fremden Frau.
Während sich Michael vor der eigenen Identitätslosigkeit fliehend aufs ewige Rollenspiel verlegt, kann Anna nicht aus ihrer Haut heraus. Ihre Wohnung strotzt vor Persönlichem, eine untote Vergangenheit wabert durch die Räume. Bald entspinnt sich zwischen den beiden ein scheues, zwischen Anziehung und Abstoßung changierendes Verhältnis, das von einem dunklen Geheimnis umrankt wird. Anna drängt Michael mehr und mehr in die Rolle ihres durch Selbstmord umgekommenen Ehemanns. Die inszenierte Trennung von diesem rituell hergestellten Wiedergänger wird Anna zuletzt als Katharsis dienen.
„Cronofobia“ ist das erratische Debüt des italienischsprachigen Schweizers Francesco Rizzi, der die Einsamkeit seiner in der Zeit verlorenen Figuren mit einer kongenialen Bildsprache spiegelt. Die ruhige Kamera dieses auf platte Psychologisierung weitgehend verzichtenden Filmpoems entwirft eine eigentümliche Dialektik aus Leere und Fülle.
Jenseits von Annas überquellender Wohnung herrscht vollkommene Sterilität, eine Welt der anonymen Flächen und Räume, die keinerlei Schweizer Behaglichkeit kennt. Wie in dem von Rizzi zitierten Charles-Bukowski-Gedicht „Nirvana“ wird die Tankstellenraststätte zum Sehnsuchtsort der Gestrauchelten. Ob Michael hier das Paradies findet und den Kreislauf der ewigen Wiedergeburt durchbrechen kann, bleibt eine offene Frage.