Der Tagesspiegel, 23.06.2022
Der Mord an Walther Rathenau vor 100 Jahren gebar die wehrhafte Demokratie. Heute wie damals ist der Rechtsextremismus ihre größte Bedrohung.
In den turbulenten Anfangsjahren der Weimarer Republik gab es 354 politische Morde, die auf das Konto von Rechtsextremen gingen, gegenüber lediglich 22 Morden, die von linken Akteuren verübt wurden. Von 1919 bis 1923 war rechter Terror in Deutschland an der Tagesordnung – wobei es auch in der Bundesrepublik nach Recherchen der Amadeu-Antonio-Stiftung allein seit 1990 mindestens 218 Todesopfer rechtsextremer Gewalttaten gibt. Die Zahlen bis zur Wende liegen ebenfalls hoch, lassen sich aber aufgrund fehlender Statistiken nur unzureichend ermitteln.
Rechtsterrorismus ist in Deutschland eine Konstante. Jedoch bleibt die Ermordung des Außenministers Walther Rathenau am 24. Juni 1922 bis heute – 100 Jahre danach – der einzige in Deutschland begangene Mord an einem aktiven Reichs- oder Bundesminister.
Dass sich das Gewaltklima zwischen 1923 und 1929 deutlich entspannte, liege indes nicht nur daran, dass sich die Republik im Anschluss an die Hyperinflation der Nachkriegsjahre 1924 wirtschaftlich erholte, erklärt der Jenaer Politikwissenschaftler Michael Dreyer. Es hatte auch wesentlich mit Rathenau zu tun: Denn nachdem der deutsch-jüdische Politiker, Schriftsteller und Industrielle in seinem offenen Wagen von Rechtsextremen erschossen wurde, schwappte eine Welle republikanischer Abwehrbereitschaft durchs Land. Für einen kurzen Moment solidarisierten sich gar Kommunisten und Sozialdemokraten – eigentlich in inniger Feindschaft verbunden...