Der Tagesspiegel, 29.4.2015
Tödliche Schüsse auf Kunden eines koscheren Supermarktes im Januar 2015 in Paris. Das grausame Massaker in einer jüdischen Schule in Toulouse 2012. Die Ermordung des französischen Juden Ilan Halimi im Jahr 2006. Ohne Zweifel ist die Zahl gewalttätiger Hassverbrechen gegen Juden als Juden seit Beginn des 21. Jahrhunderts in Frankreich gestiegen, wie alle Statistiken auch jenseits der medial rezipierten Grausamkeit belegen. Aber nicht nur in Frankreich, auch in Deutschland sind antisemitisch motivierte Gewalttaten wie der brutale Angriff auf den Berliner Rabbiner Daniel Alter im Jahr 2012 keine Einzelfälle.
Der Aufruf an die europäischen Juden zur Einwanderung nach Israel, den Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im Anschluss an die jüngsten Attentate in Paris formulierte, war politisch motiviert und entspricht ohnehin dem zionistischen Grundgedanken. Trotzdem scheint Europa für Jüdinnen und Juden knapp 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges kein durchweg sicheres Terrain zu sein. Jenseits einer konkreten Gefahr für Leib und Leben sind sie zudem mit antisemitischen Einstellungen auch von Teilen der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert. Das antijüdische Ressentiment war in Diskurs und Praxis seit jeher vielgestaltig. Wie aber kann es sein, dass Antisemitismus in modernen demokratischen Gesellschaften noch immer Konjunktur hat, sich mal im Verborgenen hält, mal offen seine hässliche Fratze zeigt? Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland wird das Phänomen heute vornehmlich als ein Problem der Muslime wahrgenommen und als abweichende gesellschaftliche Praxis bagatellisiert…