Süddeutsche Zeitung, 23.1.2013
Warum lebt eigentlich kaum jemand so, wie er es für richtig hält? Was treibt uns dazu, in einem grauen Alltag zu verweilen, der mit dem Leben, wie wir es erträumen, nicht das Geringste gemein hat? Geht man nach dem Wiener Philosophen und Kulturtheoretiker Robert Pfaller, ist es eben der Umstand, dass wir träumen und in „zweiten Welten“ uneinholbare Ideale fabrizieren, der uns in der „ersten Welt“ bestehen lässt. Das gute Leben ist nach Pfallers neuem Werk „Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere“ eine dialektische Spitze, nämlich die Synthese aus schnöder Wirklichkeit und kathartisch wirkender Nebenwelt.
In insgesamt vier großen Abschnitten und diversen Unterkapiteln, die nur lose, über den gemeinsamen Grundtext einer psychoanalytischen Kulturkritik, miteinander verknüpft sind, wird die Relevanz zweiter Welten – des Traumhaften, des Irrationalen, des Abseitigen – durchexerziert. Diesen Welten haftet nach Pfaller für sich genommen zwar etwas Widerwärtiges an; in ihrer temporären Kultivierung jedoch entfalten sie einen Glanz, der auf die erste Welt zurückwirkt und eben jene Momente erst ermöglicht, für die „es sich zu leben lohnt“.
So gehörten ein Glas Single-Malt oder eine von der Gesellschaft als pervers klassifizierte sexuelle Praktik nicht in die alltägliche Welt des Ich-Konformen. Aber gerade das Nicht-Ich-Konforme, der Urlaub in jenen mit dem Selbstbild unvereinbaren Seelenbezirken, könne in gewissen Momenten (in der Jazzkneipe oder eben in den Arealen, die das Tabu zelebrieren) eine Form von Lust bereiten, die wir uns heute, im postmodern-neoliberalen Zeitalter zusehends versagen würden. Und zwar deshalb, so Pfaller, weil sich ein „Terror der Intimität“ (Richard Sennett) herausgebildet habe, der die öffentlichen Räume verarmen und den „public man“, den Menschen früherer Dekaden, der um die Bedeutung des Maskenspiels gewusst habe, zugunsten des narzisstischen Privatiers verschwinden lasse. Heute werde alles dahingehend überprüft, ob es mit dem eigenen Ich kompatibel sei. Und alles, was das postmoderne Subjekt als störend empfinde, werde ausgeschieden. Auf diesem Wege hat sich nach Pfaller eine Verbotskultur entwickelt, die zum Beispiel auch das Rauchen – früher zentrales Moment der eleganten Inszenierung – aus der öffentlichen Sphäre verbannt hat, wo es nach der Lesart des Autors doch eigentlich hingehört. Sogar die Sexualität werde heute als etwas Ich-Fremdes erlebt und insofern sukzessive eliminiert. Im Anschluss an die Befreiung der Sexualität sei man heute dabei, sich von der Sexualität selbst zu befreien. Die „postsexuelle“ Mittelschicht delegiert demnach ihre Lust, vor deren intensivem Wellenschlag sie sich fürchtet, an eine pornographisierte Unterschicht, über deren „obszönen“ Gebrauch von Lustmitteln sie sich der Legitimität ihres eigenen „asketischen Ideals“ versichert.
So weit, so übertrieben. Denn sowohl an Pfallers These einer völligen Erosion der Öffentlichkeit als auch an der etwas hysterisch anmutenden Postsexualitätsdiagnose darf man berechtigte Zweifel anmelden. Nun ist zwar richtig, dass Privates und Öffentliches immer stärker ineinander driften, aber gerade in Zeiten von Facebook und Co. scheint es doch mindestens so evident, dass ein Zwang zur Öffentlichkeit das Private unterminiert, wie dass ein narzisstischer Rückzug aufs Private den öffentlichen Raum zum Verschwinden bringt. Eine Kulturkritik, die beanstandet, die Menschen würden sich heute im Hinblick auf eine ungesunde Authentizität selbst um ihre Zweiten Welten betrügen, wirkt da etwas gestrig. Überhaupt ist das Internet in Pfallers Werk kaum ein Thema, was schon verblüfft – zumal in einem Text, der unter dem Titel „Zweite Welten“ firmiert.
Und wie steht es um Pfallers Diagnose, dass wir den lustvollen Sex verlernt haben, dass wir allerhöchstens in Praktiken der „Interpassivität“ – sein Begriff für Weisen des Delegierens eigener Empfindungen an andere Menschen oder Objekte – unseren Sex an den Porno abgeben, um nicht mit der Intensität ich-fremder Gefühle konfrontiert zu werden?
Nun, man darf trotz einer sexuellen Sättigung im Angesicht des Close-up‘s aufs Genital in Frage stellen, dass die Asexualität das vorherrschende Dispositiv bezeichnet, das sich um den Sex der spätmodernen Mittelschicht spannt. Zugegeben: Vielleicht delegiert die ein oder andere „Shades-of-Grey“-Leserin ihren Masochismus an ein Buch, das zudem den echten, den schmutzigen Sex vermissen lässt. Dennoch werden von Pfaller die positiven Befunde einer grassierenden Sexlosigkeit, die seine epikureische Kulturkritik flankieren sollen, schlichtweg behauptet. Dass sich im Internet entsprechende Foren gebildet haben, ist kein Beweis für den Vormarsch der Asexualität. Das Internet ist ja gerade der entgrenzte Raum, in dem sich für alles und jedes Gleichgesinnte finden.
Aber auch wenn man Pfaller die ein oder andere Polemik vorhalten kann, so kann es doch erfrischend wirken, in einer Zeit rigider Gesundheitsdiskurse an die vitalisierende Logik der Überschreitung erinnert zu werden. Selten wurde man in letzter Zeit so emphatisch wie in diesem Buch an die ungesunde Wirkung des Übergesunden und mit Epikur daran gemahnt, dass das gute Leben eben ein Mäßigen der maßlosen Mäßigung impliziert.
Doch leider ist Robert Pfaller alles in allem kein wirklich gutes Buch über das gute Leben gelungen. Und das liegt nicht an einer bloß behaupteten Empirie, sondern daran, dass der Autor selbst in zu vielen Welten unterwegs ist. Das Buch wirkt, obwohl luzid und amüsant geschrieben, überladen. Der Text oszilliert zwischen einer psychoanalytischen Kulturtheorie, vulgärphilosophischer Unterhaltung und einer Gesellschaftskritik, die gegen neoliberale „Pseudopolitik“ mit einer neoepikureiischen Ethik aufwartet. So verläuft sich Robert Pfaller zuletzt in seinem eigenen Anliegen.