Der Tagesspiegel, 23.9.2015
Man müsse die Menschen so erziehen, dass sie ein zweites 1933 erkennen und verhindern würden; dass sie es aushielten, mit einer Wahrheit alleinzustehen, anstatt sie für die Sicherheit, die das Aufgehen in der Gruppe garantiert, über Bord zu werfen. Ganz im Sinne Jean-Jaques Rousseaus komme es darauf an, die individuellen Potenziale eines Menschen von klein auf zu fördern. Die den herkömmlichen Belehrungsschulen eignende Kasernierung dagegen leiste dem Totalitarismus Vorschub. „In Gruppen über 20 Schülern“, so schrieb Hartmut von Hentig einmal, „beginnt allmählich das Militär.“
Wie kaum jemand sonst hat der Altmeister der deutschen Reformpädagogik, der an diesem Mittwoch seinen 90. Geburtstag begeht, den bundesrepublikanischen Bildungsdiskurs als theoretischer Impulsgeber und praktischer Reformer bereichert. Nach einem leidigen Studium in Göttingen, das der 1925 geborene Hentig kurz nach seiner Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft begann, und einer umso lohnenderen Promotion in den USA debütierte er zunächst als Lehrer. 1963 ereilte ihn dann der Ruf nach Göttingen, wo Hentig trotz ausstehender Habilitation als Pädagogikprofessor praktizierte. Ende der 60er Jahre kam er schließlich an die frisch gegründete Uni Bielefeld, wo er die zur klassischen „Belehrungsschule“ konträre Reformschule initiierte, der er bis zu seiner Emeritierung in den späten 80ern vorstand…